Nachdem dein Zug am Bonner Hauptbahnhof satte siebzig Minuten Verspätung hatte, freust du dich nun auf ein Nickerchen. Und auf eine tolle Aussicht bei der Fahrt durch das obere Mittelrheintal, das seit 2002 in der UNESCO Weltkulturerbeliste steht.
Dieser Tag ist ein ganz besonderer. Und nach wenigen Minuten Fahrt spricht dich ein ganz besonderer Mensch an. Nicht nur das, er stellt sich sogar in die leere Sitzreihe hinter dir und beugt sich über deine Lehne, als würde er dich bereits jahrelang kennen. Er ist Mitte Zwanzig, hat einen starken Sprachfehler und riecht nach ungewaschenen Klamotten. Sein Name ist Safak. Er bittet dich, eine kostenlose WhatsApp-Nachricht an seinen Freund in Saarbrücken zu schreiben. Dieser erwarte ihn bereits und wüsste noch nichts von seiner verspäteten Ankunft, sagt Safak. Er zeigt dir sein analoges Klapphandy und sagt, er habe kein Guthaben mehr zum Telefonieren. Bereitwillig lässt du dir die Nummer des Saarbrücker Freundes geben, Safak diktiert dir die Nachricht. Im nächsten Moment kommt er in einen für dich nur schwer verständlichen Redeschwall. Du hörst Dinge wie “Darum bin ich sehr traurig”, oder “Ich finde es schlimm, dass das passieren musste”, kannst es aber aus dem Zusammenhang gerissen nicht zuordnen und verstehst es kaum. Seine Art zu sprechen erinnert dich ein wenig an die Art wie gehörlose Menschen kommunizieren, die zusätzlich zur Zeichensprache weiterhin Worte formen, die sie selbst nicht hören. Du bittest ihn, sich in dieser WhatsApp-Nachricht auf das Wesentliche zu konzentrieren und schlägst ihm eine Formulierung vor, die von der Abholung am Saarbrücker Bahnhof handelt. Er liest sie sich durch, ist einverstanden und bittet dich, die Nachricht abzuschicken.
In jeder einzelnen der nächsten zehn Minuten fragt er dich, ob eine Antwort eingetroffen sei. Bis du ihm freundlich aber bestimmt sagst, dass du dich melden wirst, sobald eine Antwort eintrifft. Daraufhin wird er unruhig — äußerst unruhig! Er hebt seine Arme, nimmt die Hände hoch als würde jemand mit einer Waffe auf ihn zielen und beginnt, wild mit den Armen zu wedeln und die Hände zu schütteln. Dabei verzerrt er sein Gesicht bewusst oder unbewusst zu einer Mimik, die wie eine Drohgebärde anmutet und schnauft laut ein und aus. Das macht er etwa eine Minute lang, ohne dich direkt anzuschauen, und du weißt nicht ob es dir Angst macht oder ob du es lustig finden sollst. Du hast so etwas noch nie zuvor gesehen.
Nach dieser aufregenden Minute beruhigt sich der junge Mann langsam wieder und setzt sich zurück an seinen Platz in einer Vierer-Sitzkombination mit Tisch. Safak trägt eine gelbe, schief sitzende Pudelmütze aus dicker Wolle, an der er ständig herumzupft, dazu eine winterliche Kapuzenjacke. Vor ihm steht sein Laptop, den er genau wie sein Handy aus jeweils einer Steckdose mit Strom versorgt. Er spielt ein komplexes Fußballmanagerspiel und schaut dabei immer wieder auf sein Telefon. Plötzlich klingelt es. Er nimmt den Anruf entgegen und lauscht dem Gesprächspartner nur kurz, ohne etwas zu sagen. Vielleicht wurde die Verbindung unterbrochen, denkst du dir. Sofort berichtet dir Safak, dass dies eben sein Vater war, mit dem er große Probleme habe. Wenn du es richtig verstanden hast, ist Safak weggelaufen und sucht nun spontan Unterschlupf bei einem Freund in Saarbrücken. Du schaust auf den Zugplan. Es ist 23 Uhr, Saarbrücken wird er frühestens gegen 1 Uhr in der Nacht erreichen.
Als dein Handy auch nach einer halben Stunde keine Antwort auf seine WhatsApp-Nachricht empfängt, bittet Safak dich, jemanden anzurufen. “Es ist sehr wichtig”, sagt er, “– ist alles ganz schlimm.” Er zeigt dir den Kontakt auf seinem Handy, den du anrufen sollst. Du schaust ihn fragend an, weißt nicht so recht was du sagen sollst, ziehst deine Schultern hoch und versuchst, ihm möglichst freundlich aber leider nicht besonders eindeutig zu vermitteln, dass du das jetzt eigentlich nicht tun möchtest. Er schaut provokativ in eine andere Richtung, hält dir aber weiterhin sein Display hin. “In Ordnung, dann diktier’ mir am besten die Nummer”, hörst du dich plötzlich sagen und weißt dabei nicht, wohin das führen soll. “Wen rufe ich da jetzt eigentlich an?,” fragst du ihn. “Guido”, sagt er. “Nein, besser sagst du Herr Müller,” fügt er hinzu. “In welchem Verhältnis steht ihr, was soll ich ihm sagen und ist es nicht schon ein bisschen spät?”, frage ich weiter. “Bitte ruf ihn jetzt an! Ist wichtig!”, unterstreicht Safak die Dringlichkeit der Situation, die du in seinen Augen noch immer nicht zu erfassen scheinst.
Du tust was er sagt und wählst die Nummer vom Herrn Müller. Es klingelt. Viermal, sechsmal, keine Mailbox. Du legst auf und sagst deutlich in seine Richtung: “Es geht niemand ans Telefon.” Safak springt auf und marschiert jetzt aufgeregt den Gang des InterCity auf und ab. Du merkst, dass er einer Dame, die in der Sitzreihe neben dir sitzt, mit seinen wilden Armbewegungen und seinem beängstigenden Gesichtsausdruck Angst bereitet. Sie hält sich eine Hand vor den Mund und atmet manchmal kurz und erschrocken ein, so dass du den Hauch ihres Atemzuges hörst. Auch deshalb beschließt du, Safak auf sein Verhalten anzusprechen. Du fragst ihn, ob er aufgeregt sei und was die Bewegungen zu bedeuten hätten. Ganz plötzlich lässt er überrascht beide Arme fallen und fasst sich mit einer Hand beschämt an seine Mütze. Er sagt, dass er sehr traurig sei. Außerdem fügt er nur das Wort “Psyche” hinzu, schaut wieder in eine ganz andere Richtung und kommuniziert so auf seine ganz eigene Weise mit dir. Du verstehst, dass ihm die Bewegungen unangenehm sind, er jedoch in diesem Moment nichts dagegen tun kann. Er beruhigt sich ein wenig und setzt sich wieder an seinen Laptop.
Nach wenigen Minuten piept es. Plötzlich springt er auf, stürmt mit aufgerissenem Mund auf dich zu und streckt dir sein aufgeklapptes Handy entgegen. Für dich kaum verständlich sagt er: “Lies mal die Sms und antworte auf die Nachricht, bitte.” Das Wort “bitte” zieht er sehr lang und spricht es in einer klagenden Weise und sehr viel klarer aus als den Rest dieses Satzes. Du schüttelst den Kopf. “Doch, ist ganz wichtig, lies’ bitteee”, sagt er und hält dir sein Handy vor die Nase. Du ergibst dich ihm und nimmst das Handy mit der aufgeschlagenen SMS in deine Hand. Auf dem Display steht: “Safak! Hör auf, mich ständig anzurufen! Du bist ein Stalker, du bist ein Verbrecher! Du hältst keines deiner Ehrenworte! Ich habe jetzt genügend Beweise gegen dich und werde die Polizei verständigen! Ruf mich nicht mehr an! Und zieh da nicht immer andere mit rein!” Du gibst ihm das Handy zurück, schaust ihn an und sagst ihm in klaren Worten, dass du ihm nicht weiter helfen kannst.
Es ist spät geworden. Vom Weltkulturerbe hast du in der Dunkelheit fast gar nichts gesehen. Als du aussteigst, verabschiedest du dich von Safak. Er schaut nur kurz hoch, schiebt seine gelbe Wollmütze zurecht und widmet sich wieder seinem Fußballmanagerspiel.