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Dein Status: Arbeitssuchend

Arbeitsagentur

Dein Statussymbol

Es ist Freitagabend, du stehst nicht an einer Bar und bist nicht komplett besoffen. Du bist nicht einmal angebrütet. Ganz im Gegenteil: Du scrollst mit deiner Maus durch die Stellenangebote des heutigen Tages, trinkst Grünen Tee und hörst Mechanical Bull, das neue Album der Kings of Leon. Das Probeabonnement deines Spotify Premium-Accounts läuft bald aus und du wirst es rechtzeitig kündigen. Auch wenn der Konsumhahn deines Lebens noch vor einem halben Jahr weit aufgedreht war, steht er jetzt auf Sparflamme.

Du warst erfolgreich. Du wurdest gebraucht. Das was du produziert hattest, wurde genutzt, um die Welt und vor allem deinen Arbeitgeber ein kleines bisschen besser zu machen. Nach einem halben Jahrzehnt voller neuer beruflicher Erfahrungen, interkultureller Begegnungen und einem Leben, das sich viele tausend Kilometer von deiner eigentlichen Heimat abspielte, findest du dich nun in einer konsumhungrigen deutschen Großstadt wieder. Aus so großer Entfernung sah diese Stadt wie Heimat aus. Und je genauer du hinschaust, desto besser gefällt es dir hier.

Kurz vor dem Ende wirst du überaus wichtig und deine Aufgaben haben höchste Priorität.

Besonders die letzten zwei Wochen in deinem befristeten Arbeitsverhältnis sind überdurchschnittlich arbeitssam. Du kennst das von deinen Urlauben. Immer wenn sich andeutet, dass du eine Weile weg bist, wirst du plötzlich für viele Kollegen überaus wichtig und all deine Aufgaben haben höchste Priorität. Jetzt musst du zusätzlich die Übergabe an deinen Nachfolger vorbereiten, deine alltäglichen Aufgaben erledigst du nebenbei. Die Arbeitstage sind lang. Einige Kollegen fragen dich, für wen du dich noch so ins Zeug legst. Du stehst auf einen ordentlichen Abgang.

Am Morgen eines solchen Tages, in der letzten Arbeitswoche, stehst du um 6:30 Uhr auf und befindest dich noch vor 8 Uhr am Schalter der Agentur für Arbeit. Du musst dich dort noch vor deinem letzten Tag in Lohn und Brot persönlich melden, so will es das Gesetz. Es hat etwas von einem Morgenappell bei der Bundeswehr. Du meldest dich mit deinem Namen, deiner derzeitigen Arbeitssituation, deiner Wohnadresse und einem bestimmten aber möglichst freundlichen Gesichtsausdruck. Kein Grinsen! Denn zum Grinsen ist dir nicht zumute. Und die frühe Tageszeit ist ausnahmsweise nicht der Grund dafür. Dein aktueller Status: Arbeitssuchend.

Du gehst mit einem Lächeln, und nicht mit leeren Händen.

Die Abschiede im Büro bringst du hinter dich. Es ist nicht so schlimm wie du erwartest. Denn wie sagte schon Hermann Hesse in seinem Gedicht Stufen: “Und jedem Abschied wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.” Genau diesen Zauber erlebst du ganz persönlich. Du bekommst sehr viel Besuch in deinem Büro, ob mit oder ohne Einladung. Es sind vor allem diejenigen, die dir etwas mit auf den Weg geben wollen — ein Wort des Abschieds oder eine kleine Erinnerung. Sobald das letzte Glas Sekt und der letzte Kuchenteller in der kleinen Teeküche neben deinem Büro abgewaschen sind, ist es für dich Zeit zu gehen. Du gehst mit einem Lächeln, und nicht mit leeren Händen.

6,6 Prozent aller potenziellen Arbeitnehmer in Deutschland sind arbeitslos. Das waren im September 2013 etwa 2,8 Millionen Menschen. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit im besten Drittel. Nicht ganz so rosig sieht die Entwicklung der befristet Beschäftigten aus. Der Anteil derer, die sich bereits bei Vertragsunterzeichnung Gedanken machen mussten, wie es in einem oder zwei Jahren weitergeht, stieg von etwa 4,5 Prozent im Jahr 1996 auf nun fast 10 Prozent. Anstellungsverhältnisse werden demnach immer kürzer und die langfristige Lebensplanung wird anspruchsvoller. Du bist direkt betroffen von dieser Statistik. Was erwartest du von der kommenden Zeit? Welche Pläne hast du? — Du kannst diese Fragen nicht beantworten. Nicht jetzt. Was du brauchst ist Zeit. Und Ruhe. Denn wenn du die letzten Wochen und Monate Revue passieren lässt, wird dir eines klar: Die Arbeit war eine Domina. Du erfülltest deine Aufgaben sorgfältig und über die Erwartungen vieler hinaus — die Peitschenhiebe spürtest du trotzdem.

Du erfülltest die Erwartungen. Die Peitschenhiebe spürtest du trotzdem.

Pläne sind etwas Gutes. Sie sind wichtig für ein Vorankommen und ein Erreichen. Du bist ambitioniert und deine Umwelt ist es auch. Also schmiedest du große Pläne. Auch weil es sich einfach gut anfühlt, darüber zu reden und sich auf etwas zu freuen. Gemeinsame Pläne schweißen zusammen. Wenn es keine großen Pläne gibt, schmiedest du viele kleine. Du kannst nicht anders, du schwimmst im Strom, um dich herum überwiegen die Eindrücke, die dir sagen: Lass uns etwas trinken gehen! Komm’ mit zu dieser Party! Geh’ mit ins Kino! Lass uns morgen gemeinsam frühstücken! Kommst du im Winter mit uns Skifahren? — Das alles willst du. Das alles kannst du. Es macht dir sogar sehr viel Spaß, eigentlich. Aber wie lange und — wie fühlst du dich dabei?

Du bist in der seltenen Situation, nun deinen Alltag selbst einteilen zu können und das zu machen, was für dich in diesem Moment am sinnvollsten ist und, ganz praktisch gesehen, was am wenigsten Geld kostet. Dabei hast du die Möglichkeit, mehrere Gänge herunterzuschalten, zu verarbeiten, nachzudenken, auszuholen. — Hättest du ihn vielleicht schon früher einlegen sollen, diesen Boxenstopp? Dieses Verharren in der Boxengasse bis der Tank wieder voll ist und du die passenden Reifen für die aktuelle Wetterlage aufgezogen bekommst. Kannst du dir diesen Boxenstopp überhaupt leisten? Wie wird sich das Fahrerfeld in der Zwischenzeit verhalten, wer wird dich überholen, wer wird dich vergessen? Wird es deinen Beziehungen schaden? Wie fühlt sich diese Unsicherheit für dich an?

Mehrere Gänge herunterschalten. Verarbeiten, nachdenken. Ausholen!

Wenn dich jemand fragt, was du den ganzen Tag machst, findest du das in erster Linie unangenehm. Dennoch findest du Freude an deinem aktuellen Alltag. Du findest Gefallen an scheinbar banalen Dingen: Drogerien sind tagsüber ganz stressfrei und leer. Nur vor dem Fotoautomaten am hintersten Ende des Ladens bilden junge Mütter Schlangen aus Kinderwagen. Auf den Bildschirmen der Automaten sind Bilder von Kindern in den unterschiedlichsten Lebenssituationen zu sehen. Da ist vom ersten Kacka bis zum letzten Sommerurlaub auf Gran Canaria alles dabei. Neulich hast du zum ersten Mal in deinem Leben gesehen, dass Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehrs um 9 Uhr morgens von einer Reinigungsfirma mit einem Hochdruckreiniger gesäubert werden. Das hattest du vorher nie gesehen! Wie auch, du warst ja im Büro.

Wenn dich also jemand fragt, was du den ganzen Tag machst, dann weißt du, dass du versuchst jeden einzelnen Tag zu einem produktiven Tag zu machen. Du willst, dass dich jeder Tag in irgendeiner Art und Weise weiter bringt. Das ist ambitioniert, funktioniert aber meistens — nur sieht es niemand! Rechenschaft dafür ablegen willst du dennoch nicht. Auf die Frage antwortest du neuerdings knapp und nicht immer wahrheitsgetreu: “Ich genieße mein Leben.”